Baby sitzt am Boden und hat Spielzeug im Mund
Chemikalien in Kinderspielzeug dienen dem Brandschutz. Doch weil Babys das Spielzeug auch in den Mund nehmen, können diese in den Körper gelangen – mit potenziellen gesundheitlichen Folgen.
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Wir sind derzeit mit so manchen gesundheitlichen Entwicklungen konfrontiert, deren Ursachen nicht ganz klar sind. Die männliche Fruchtbarkeit nimmt etwa seit den 1970er-Jahren ab, ohne dass man genau wüsste, woran das liegt. Immer mehr Menschen sind von der neurologischen Erkrankung Parkinson betroffen, in immer jüngerem Alter. Auch Entwicklungsstörungen des Gehirns werden immer häufiger. In den USA wird etwa jedes 36. Kind mit Autismus diagnostiziert.

Ein Auslöser, den man damit in Verbindung bringt, sind Umweltchemikalien. DER STANDARD berichtete hier und hier. Dabei handelt es sich um chemische Produkte, die bei ihrer Herstellung, während oder nach ihrer Anwendung in die Umwelt gelangen. In der Regel bleiben sie nicht unverändert in der Natur, sondern werden abgebaut oder in andere Verbindungen eingebaut. Und man findet sie auch im menschlichen Körper. Erst vor kurzem etwa wurden verbotene Weichmacher in Kinderurinproben entdeckt.

Dünne Studienlage

Welche Folgen für die menschliche Gesundheit diese Umweltchemikalien haben, ist dabei noch sehr unklar. Das liegt auch daran, dass es zehntausende chemische Verbindungen gibt, mit denen wir im Alltag in Kontakt kommen können. Und nur bei den wenigsten ist die Wirkung auf den Menschen tatsächlich genauer erforscht.

Nun wurden für eine neue Studie, die soeben im Fachjournal "Nature Neuroscience" publiziert wurde, einige dieser Umweltchemikalien untersucht. Konkret geht es um Mittel, die in Desinfektions- und Flammschutzmitteln vorkommen. Sie zeigen im Mausmodell eine toxische Wirkung auf Oligodendrozyten, das sind Helferzellen der Neurone. Die Substanzen in den Flammschutzmitteln könnten dazu führen, dass Kinder motorische Störungen entwickeln und Sonderunterricht benötigen, schlussfolgern die Forschenden.

Oligodendrozyten versorgen im zentralen Nervensystem Neurone mit Energie und spielen bei der Weiterleitung elektrischer Signale eine Schlüsselrolle. Die Entwicklung dieser Zellen passiert ein Leben lang, die kritische Phase ist allerdings vom pränatalen Stadium bis zum dritten Lebensjahr. Während die Auswirkungen chemischer Substanzen auf Neurone bereits breit untersucht wurden, ist noch unklar, welche Chemikalien sich speziell auf Oligodendrozyten auswirken.

In Lutschtabletten enthalten

Insgesamt 1.823 Chemikalien nahm ein Team von Forschenden aus den USA unter die Lupe und untersuchte ihre Wirkung auf die Oligodendrozyten von Mäusen in Zellkulturschalen: 292 der Chemikalien töteten die Zellen, 47 weitere hemmten ihre Bildung, 22 förderten die Oligodendrozyten-Generierung.

Die identifizierten toxischen Chemikalien ließen sich dabei zwei Klassen einteilen: die quartären Verbindungen (Ammoniumverbindungen und eine phosphorhaltige), die Oligodendrozyten selektiv töten und die beispielsweise in einigen Desinfektionsmitteln und Lutschtabletten gegen Atemwegserkrankungen enthalten sind. Und Organophosphat-Flammschutzmittel, welche die Zellentwicklung hemmen und in einigen Möbeln und Baumaterialien enthalten sind.

In Folgeuntersuchungen an Mäusen und kultivierten menschlichen Oligodendrozyten werden diese Befunde gestützt. Anschließend analysierten die Forschenden Daten des National Health and Nutrition Examination Surveys (NHANES). Dabei zeigte sich, dass der Flammschutzmittel-Metabolit BDCIPP in 99,4 Prozent der Urinproben der untersuchten drei- bis elfjährigen Kinder nachweisbar war. Zudem seien die BDCIPP-Werte in den vergangenen Jahren gestiegen. Kinder, bei denen höhere BDCIPP-Werte nachgewiesen wurden, wiesen zudem höheren Raten von motorischen Störungen und Bedarf an Sonderunterricht auf.

Beschränkungen in der EU

Auch hierzulande kommen quartäre Ammoniumverbindungen zum Einsatz, es gibt aber verschiedene Beschränkungen, deshalb dürfte die Belastung geringer sein als in den USA. Die EU gibt außerdem strenge Vorgaben zur Verwendung von quartären Ammoniumverbindungen in der Lebensmittelerzeugung vor und überwacht das Vorkommen. Die gesundheitliche Belastung durch Flammschutzmittel scheint allerdings auch in Europa ein reales Problem zu sein.

Was bedeutet das nun im täglichen Leben? Das erklären Forschende, die selbst nicht an der Studie beteiligt waren, die Qualität der Daten aber unisono hervorheben. Beate Escher, Professorin für Umwelttoxikologie an der Uni Tübingen, etwa ist von den Effekten der quartären Ammoniumverbindungen nicht wirklich überrascht: "Sie haben hohe Affinitäten zu biologischen Membranen und stören auch Mitochondrien und die Energiegewinnung von Zellen. Wenn sie sich in biologische Membrane einlagern, können sie als Fremdstoffe Struktur und Funktion stören."

Sie gibt zu bedenken, dass es sich wie bei "allen epidemiologischen Studien um Assoziationen handelt und nicht um kausale Zusammenhänge. Aber dass Effekte, die auf Zellen im Reagenzglas und in Mäusen auftreten, auch im Menschen auftreten können, ist unbestritten." Allerdings müssten noch die Aufnahme in den Menschen sowie Detoxifizierungs- und Verteidigungsmechanismen berücksichtigt werden. Aber man könnte die Frage auch andersherum stellen, sagt Escher: "Warum sollten Verbindungen, die isolierte Zellen stören, diesen Effekt nicht im ganzen Organismus haben?"

Korrelation, nicht Kausalität

Die Datenlage könne eine mögliche Kette der Evidenz aufzeigen, auch wenn noch entscheidende Schritte fehlen, um die In-vitro-Erkenntnisse zu in vivo zu extrapolieren. "Es handelt sich dabei aber um Alltagschemikalien, Menschen sind exponiert, und es gibt genügend Hinweise aus epidemiologischen Studien, dass diese Stoffe neurotoxisch sind", sagt Escher. Man wisse aber nicht, welche Konzentration im Gehirn ankomme und wie groß die Schädigung sei.

Dass viele Menschen mit diesen Chemikalien in Kontakt kommen, davon sei auszugehen, sagt auch Christoph van Thriel, Leiter der Forschungsgruppe Neurotoxikologie und Chemosensorik an der TU Dortmund. "Cetylpyridiniumchlorid (CPC) wird wegen seiner antiseptischen Wirkung in Lutschtabletten und Mundspülungen zur Behandlung von Entzündungen der Mundhöhle und des Rachenraums eingesetzt. Auch in einigen Zahnpasten wird es verwendet." Ein Risiko wurde bisher aber in epidemiologischen Studien, etwa Mutter-Kind-Kohortenstudien, nicht berichtet. Er schätzt die Flammschutzmittel generell schädlicher ein, bei dieser Substanzgruppe wurde die Assoziation auch schon gezeigt.

Van Thriel betont, dass man davon ausgehen muss, dass man diese Substanzen oral, über die Haut und über die Atemwege aufnimmt. "Kleinkinder sind besonders gefährdet, da bei ihnene sehr viel Hand-Mund-Kontakt besteht und die Entwicklung der Oligodendrozyten noch nicht abgeschlossen ist." In der Krabbelphase könne deshalb eine erhöhte Aufnahme angenommen werden. Man müsse aber die Überwindung der Blut-Hirn-Schranke noch weiter untersuchen, um eine umfassende Risikoeinschätzung abgeben zu können.

Flammschutzmittel im Urin

Marcel Leist, Professor für In-vitro-Toxikologie und Biomedizin an der Uni Konstanz, betont, dass die untersuchten quartären Ammoniumverbindungen eine sehr große und heterogene Verbindungsklasse sind. "Viele natürliche Produkte und Substanzen des menschlichen Metabolismus enthalten sie, ohne sie wären wir alle tot." Deshalb sei es wichtig zu klären, welche Untergruppen problematisch sein können.

Auffallend findet Leist, dass bei praktisch allen Kindern Flammschutzmittel im Urin gemessen werden konnten. "Das muss nicht automatisch auf Gesundheitsprobleme hindeuten, aber es zeigt klar eine hohe Chemikalienexposition, die reduziert werden sollte." Da die Chemikalien praktisch überall enthalten seien, von Vorhängen über Möbel bis zu Spielzeug, werden sie aber ständig oral und über die Lunge aufgenommen.

Zwar wurden die Mittel weiterentwickelt, aber sie seien nur teilweise sicherheitsgetestet: "Für fast alle Chemikalien bestehen daher große Wissenslücken." Vor allem die quartären Ammoniumverbindungen fallen alle in diese Testlücke. Es gebe daher kaum Daten der Industrie oder von Regulationsbehörden, weiß Leist.

All das seien wertvolle Hinweise, sind sich die Forschenden einig. Zwar könne man über die tatsächliche gesundheitsschädliche Wirkung derzeit nur Vermutungen anstellen, man benötige dringend weitere Studien. Doch dass hier eine potenzielle Gefahr vorhanden sei, sei klar. (Pia Kruckenhauser, 25.3.2024)