Elektromagnetisches Feld in einem Gerät illustriert
Eine bearbeitete Aufnahme, die das elektromagnetische Feld illustriert, mit dem Materie und Antimaterie getrennt werden.
IMAGO/Panthermedia

Die Balance der Welt scheint, wohin man blickt, durch einander bedingende Gegenpole bestimmt zu sein: links und rechts, These und Antithese, Frau und Mann, Yin und Yang. Erst das Vorhandensein beider Pole sorgt für die natürliche Ordnung der Dinge.

Doch blickt man durch diese Brille auf den physikalischen Anfang des Universums, offenbart sich dort ein sonderbarer Geburtsfehler: Auch Elementarteilchen besitzen einen perfekten Widerpart, zu jedem Teilchen gibt es ein Antiteilchen gegenteiliger Ladung, das sonst in jeder Hinsicht identisch zu sein scheint. Als sich das Licht des sehr, sehr frühen Universums in Materie verwandelte, entstanden jeweils zwei Partikel, ein Teilchen und ein Antiteilchen.

Dabei scheint aber etwas schiefgegangen zu sein. Heute besteht die Welt und alles, was wir kennen, aus Materie. Die Idee, dass es etwas wie Antimaterie geben könnte, entstand aus ästhetischen Überlegungen, die an den vorhin beschriebenen Ausgleich der Gegensätze erinnern: Als Paul Dirac die Schrödinger-Gleichung, die damals genaueste Beschreibung des Mikrokosmos, von ihrem größten Makel befreien und sie mit den Gesetzen von Einsteins Relativitätstheorie in Einklang bringen wollte, traten dort seltsame neue Zustände auf. Die neu gefundene Dirac-Gleichung funktioniert nur, wenn Materie eine dunkle Partnerin bekommt. Worum es sich handelte, wusste man nicht, doch Dirac war gemäß seinem berühmtesten Zitat überzeugt: Wenn es schön ist, ist es auch relevant.

Antimateriefabrik

Dirac sollte recht behalten. Inzwischen ist Antimaterie fixer Bestandteil des physikalischen Weltbilds und kann im Labor hergestellt werden. Letzteres ist das Forschungsgebiet von Carsten Welsch. Er forscht als Physiker an der Universität Liverpool und ist an weltweit einzigartigen Experimenten am Kernforschungszentrum Cern beteiligt, in denen Antimaterie hergestellt, gesammelt und vermessen wird.

Die Erzeugung von Antimaterie folge im Grunde einem simplen Prinzip, erklärt Welsch dem STANDARD: "Wenn ich es schaffe, genug Energie auf einen kleinen Punkt zu bringen, dann erzeuge ich Masse." Das ergibt sich aus Einsteins Gleichung E=mc². "Die Gleichung sagt nichts darüber aus, was diese Masse ist und welche Eigenschaften diese Teilchen haben. Aus Experimenten wissen wir, dass es sowohl Materie- als auch Antimaterieteilchen sein können", sagt Welsch.

Ein futuristisches Metallobjekt, von dem Kabel wegführen.
In diesem Instrument werden Antimaterieteilchen festgehalten.
CERN/AEgIS

Konkret funktioniert das so: "Wir nehmen einen hochenergetischen Protonenstrahl und schießen diesen auf einen Block Metall." Dabei entsteht sowohl Materie als auch Antimaterie. "Das heißt, wir müssen dann erst einmal eine Art Reinigung vollziehen. Dazu benutzen wir Magnetfelder und elektrische Felder, um die verschiedenen Fragmente, die in dem Prozess entstehen, voneinander zu trennen und dann tatsächlich nur die Teilchen, die wir wirklich untersuchen wollen, herauszufiltern", beschreibt Welsch die Technik.

Effektiv sei das nicht, betont er: "Wir kriegen für eine Million Protonen, die auf dieses Target treffen, gerade einmal ein einziges Antiproton." Mehr sei nicht möglich, ohne den Metallblock zum Schmelzen zu bringen. Die erzeugten Teilchen sind zudem sehr kurzlebig. Sobald sie mit Materie in Berührung kommen, "zerstrahlen" sie und gehen rückstandslos in einem Lichtblitz auf.

Die Suche nach Unterschieden

Übergeordnetes Ziel der Forschungen ist die Erklärung des eingangs erwähnten Ungleichgewichts zwischen Materie und Antimaterie. "Wir hoffen, dass wir irgendwelche Unterschiede zwischen einem Teilchen und seinem Antiteilchen messen können, denn das würde erklären, warum es diese Asymmetrie im Universum gibt", sagt Welsch.

Um diesen Unterschieden nachzuspüren, fügen die Forschenden Antimaterieteilchen zu Atomen zusammen. Das einfachste Atom ist Antiwasserstoff. Es besteht aus einem Atomkern in Form eines Antiprotons und einem Positron. Physikalisch verhält es sich identisch wie das bekannte Wasserstoffatom. Unterschiede ließen sich trotz genauester Messungen bisher nicht feststellen.

Das Team ging also einen Schritt weiter und erzeugte eine Art Atom namens Positronium, das es in der Natur nicht gibt. "Positronium ist einem Atom ähnlich in dem Sinn, dass es aus einem positiven und einem negativen Teilchen besteht und nach außen elektrisch neutral wirkt. In diesem Fall besteht es aber aus einem Elektron und seinem Antiteilchen, dem Positron", erklärt Welsch. Es verhalte sich wie ein Atom, besitze im Gegensatz zu echten Atomen aber keinen Kern, sondern bestehe aus zwei leichten Teilchen.

Flüchtig und schön

"Es ist ein außergewöhnlich schönes Teilchen, denn sowohl das Elektron als auch das Positron sind punktgleiche Teilchen, das heißt, sie haben keine räumliche Abmessung und lassen sich damit quantenmechanisch äußerst genau beschreiben", betont Welsch. Darin besteht der Vorteil des Positroniums gegenüber Antiwasserstoff.

Um es aber genau vermessen zu können, mussten die Forschenden es kühlen. Das ist kürzlich erstmals im Labor geschehen, wie das Team in einer neuen Studie im Fachjournal "Physical Review Letters" berichtet. "Das ist ein Prozess, der uns jede Menge Türen in ganz neue experimentelle Richtungen geöffnet hat", freut sich Welsch. Das ebnet auch den Weg zum längerfristigen Ziel, das Welsch im Rahmen der Aegis-Kollaboration anstrebt: "Präzisionsmessungen zu machen, wie sich das Schwerefeld der Erde auf ein Antimateriesystem auswirkt."

Welschs Team findet also keine Unterschiede zwischen Materie und Antimaterie. Doch ganz vollkommen ist die Symmetrie nicht, wie ausgerechnet andere Experimente am Cern zeigen. "Es gibt in der Tat im Prinzip zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze, um sich der Fragestellung zu nähern", gibt Welsch zu. Er verweist auf Hochenergieexperimente wie zum Beispiel LhCB am Cern. An der Antimatter Factory gehe man einen komplett anderen Weg.

Mehrere Männer mit Gummihandschuhen sind um einen zylindrischen, glänzenden Apparat gruppiert.
Ein Blick ins Innere eines der Antimaterieexperimente. Hier ist das Experiment Aegis zu sehen, bei dem untersucht werden soll, wie Antimaterie auf Schwerkraft reagiert.
CERN/AEgIS

Antimaterie bei Dan Brown

Dieser Weg fasziniert nicht nur Forschende, sondern fand auch bereits prominent seinen Platz in der Popkultur. In Dan Browns Roman "Illuminati" bricht ein Terrorist in das Antimaterielabor des Cern ein und entwendet einen Behälter mit der seltenen Substanz, die er kurz darauf im Vatikan zu detonieren droht. Welsch sieht tatsächlich Parallelen zur Wirklichkeit. "Es ist gerade erst vor drei Jahren ein Experiment genehmigt worden, das genau einen solchen Behälter entwickeln und herstellen wird, in dem Antimaterieteilchen eingefangen und transportiert werden können", berichtet Welsch.

Handelt es sich dabei also um eine Art tragbare Bombe wie in Dan Browns Roman? "Die Antwort darauf ist ganz klar Nein", sagt Welsch. "Der Grund liegt einfach in der ganz geringen Masse an Antimaterie, die erzeugt werden kann." Alle zwei Minuten würden nur zehn Millionen Antiprotonen erzeugt, und nur ein kleiner Bruchteil davon kann auch eingefangen werden. "Wenn wir die gesamte Antimaterie, die die Menschheit jemals in Laborexperimenten erzeugt hat, zusammenbringen und auf einen Schlag annihilieren, dann haben wir noch nicht einmal genug Energie, um eine Tasse Tee heiß zu machen." Prophetisch sei Dan Brown hingegen bei den Irisscannern gewesen. Solche seien inzwischen tatsächlich installiert worden.

Auch wenn Dan Brown übertrieb, ganz ohne Berührungspunkte mit unserem Alltag ist die Antimaterieforschung nicht. "Antimaterie ist alltäglich im klinischen Einsatz, und zwar in Form von Positronenemissionstomografie in Krankenhäusern", sagt Welsch. Dabei wird leicht radioaktives Material in den Körper injiziert, woraufhin Positronen und Elektronen emittiert werden. Diese helfen, ein Bild vom Inneren des Körpers zu erstellen. "Das sind Technologien, die Antimaterie aktiv verwenden und einen enormen medizinischen Nutzen bringen", sagt Welsch.

Auch wenn Antimaterie nach und nach beherrschbarer wird, das Übergewicht an Materie bleibt derweil bis auf Weiteres ohne Erklärung. Eine Erkenntnis lässt sich daraus ziehen: Perfekt ist die Welt nur in der Theorie. Die Wirklichkeit ist unvollkommen und voller Rätsel. (Reinhard Kleindl, 27.3.2024)