DNA-Spirale mit Defekt
Rund 10.000 seltene Erkrankungen dürfte es geben, die meisten werden durch einen Gendefekt verursacht. Wichtig für die Erforschung ist die internationale Vernetzung.
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Der 29. Februar steht nur alle vier Jahre im Kalender. Es muss schon ein Schaltjahr sein, damit dieser Tag Realität wird. Er ist ähnlich selten wie eine seltene Erkrankung, diese Analogie macht ihn zum perfekten Tag, um für Rare Diseases weltweit Aufmerksamkeit zu schaffen. In den Nichtschaltjahren muss sich der Themenbereich mit einer Aktionswoche rund um das Datum zufriedengeben. Doch wovon sprechen wir konkret, wenn es um seltene Erkrankungen geht?

Das sind jene Krankheiten, die – wie der Name schon sagt – nur sehr selten vorkommen. Jede Einzelne betrifft nicht mehr als eine von 2.000 Personen, so ist die offizielle Definition. Trotzdem haben viele Menschen mit dem Thema zu tun. Denn es gibt viele unterschiedliche seltene Erkrankungen. Zwischen 6.000 und 7.000 hat man derzeit entdeckt, aber man geht davon aus, dass es mindestens 10.000 gibt, weiß Kaan Boztug. Der Experte für seltene Erkrankungen ist wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung, forscht an der Med-Uni Wien und an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Insgesamt hat nach derzeitigem Kenntnisstand eine von 17 Personen eine seltene Erkrankung, das sind alleine in Österreich über eine halbe Million Menschen. "Das ist beileibe kein kleines Problem von einigen wenigen Einzelpersonen. Wissenschaft, Gesundheitssystem und Politik müssen dem Thema die entsprechende Aufmerksamkeit zubilligen", betont Boztug.

Die Zahl der Betroffenen wird noch extremer, wenn man auf die Kinderkliniken blickt: "Auf den stationären Kinderabteilungen der Universitätskliniken hat zum Teil jedes zweite Kind eine seltene Erkrankung." Das liegt daran, dass der Großteil davon genetisch bedingt ist, man schätzt rund 80 Prozent. Und von diesen beginnen wiederum schon 70 Prozent im Kindesalter. Weitere Auslöser können bakterielle oder virale Infektionen sein, Allergien oder auch Umwelteinflüsse.

Von Schmetterlingskindern bis Tourette

Die Liste der Erkrankungen ist dabei lang. Es gibt in der breiteren Öffentlichkeit "bekanntere" seltene Erkrankungen, wie etwa Epidermolysis bullosa – an ihr leiden die Schmetterlingskinder –, zystische Fibrose oder das Tourette-Syndrom. Es gibt aber auch gänzlich unbekannte und auch unerforschte: "Manche betreffen nur eine von 100.000 Personen. Und wir haben schon Erkrankungen entdeckt, bei denen es einen einzigen Fall in einer einzigen Familie gibt", berichtet Boztug.

Mittlerweile gibt es ein Bewusstsein für diese Thematik, im Medizinstudium werden etwa einige angeborene Stoffwechselstörungen besprochen. Boztug selbst forscht unter anderem im Bereich der angeborenen Störungen der Blutbildung und des Immunsystems und an genetischen Ursachen für eine Neigung zur Entwicklung von Tumoren bei Kindern. Im Neugeborenen-Screening werden mittlerweile einige seltene Erkrankungen wie verschiedene Stoffwechseldefekte abgeprüft. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil die Behandlungs- oder auch Heilungsmöglichkeiten umso besser sind, je früher man die Defekte erkennt.

Manche dieser Erkrankungen kann man sogar, wenn man sie rechtzeitig entdeckt, heilen. Das gilt zum Beispiel für den schweren kombinierten Immundefekt, eine angeborene, fast immer genetisch bedingte, lebensbedrohliche Erkrankung. "Stellt man den rechtzeitig fest, können wir die Betroffenen mit einer Knochenmarkstammzellentransplantation heilen", weiß Boztug. "Wir gehen von rund 10.000 seltenen Erkrankungen aus. Bei mehr als der Hälfte haben wir mittlerweile verstanden, woran es liegt. Das ist ein riesiger Fortschritt, vor wenigen Jahren war es noch ganz anders."

Viele Erkrankungen, wenige Therapien

Anders sieht es allerdings aus mit Blick auf die Therapien: "Wir haben derzeit für rund fünf Prozent der seltenen Erkrankungen eine spezifische Therapie, die also dort ansetzt, wo das Problem liegt." Nicht jede seltene Erkrankung benötigt eine spezifische Therapie, bei einigen reicht eine begleitende und unterstützende Behandlung aus, damit die Symptome nicht zu stark werden. Boztug sieht es positiv: "Zumindest haben wir schon viele Erkrankungen verstanden. Das ist ja die Grundvoraussetzung dafür, dass man eine grundlegende Therapie entwickeln kann."

Ein wichtiger Ansatzpunkt ist hier die Gentherapie: "Es gibt mittlerweile die Möglichkeit, dass man ein Gen entweder ersetzt, also eine gesunde Kopie des defekten Gens in den Körper einbringt, oder dass man das defekte Gen repariert", berichtet der Experte. Möglich wurden diese neuen Ansätze durch die CRISPR-Technologie, deren Entwicklerinnen 2020 den Nobelpreis für Chemie bekommen haben.

Für Boztug ist bei der Erforschung außerdem die fachliche Vernetzung enorm wichtig: "Die meisten dieser Erkrankungen sind so selten, dass kein Experte alleine genug Betroffene betreut, um aussagekräftige Erkenntnisse zu bekommen, egal ob in der laborexperimentellen oder klinischen Forschung oder in der Behandlung." Deshalb sind der Austausch und die gemeinsamen Überlegungen so wichtig. So könne man etwa auch institutionsübergreifend klinische Studien aufbauen.

Wie geht es mit der Erforschung der seltenen Erkrankungen weiter? Hier ist Boztug zuversichtlich: "Da ist mein Optimismus groß, sonst könnte ich auch gar nicht in dem Bereich arbeiten. Wir haben viel mehr verstanden also noch vor wenigen Jahren. Ich glaube, dass die Welt an der Stelle viel besser zusammenarbeitet als früher. Und ich bin auch überzeugt, dass wir es schaffen werden, für einen größeren Teil dieser Erkrankungen bessere und zielgerichtetere Therapien zu entwickeln."

Das findet er auch deshalb so wichtig, weil das Thema in irgendeiner Form wohl fast alle Menschen betrifft – sie selbst, in der Familie oder auch im weiteren Umfeld: "Ich denke, niemand kann sagen, dieses Thema geht mich nichts an." Hier will Boztug für mehr Bewusstsein sorgen, denn "als Gesellschaft müssen wir uns überlegen: Was ist uns unsere Gesundheit wert? Und wie bereit sind wir, medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt zu unterstützen, damit wir mit diesen Erkrankungen besser zurechtkommen?" (kru, 29.2.2024)