Beim sogenannten kinetischen Magnetismus sind ganz andere Mechanismen am Werk als bei herkömmlichen Magneten. Bisher war diese spezielle Magnetismusform nur theoretisch diskutiert worden. Doch nun ist einem Schweizer Forschungsteam der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich erstmals ein experimenteller Nachweis gelungen. Grundlage der Entdeckung war ein spezielles, künstlich hergestelltes "Moiré-Material".

Bei einem gewöhnlichen Magneten müssen in seinem Inneren mehrere physikalische Effekte perfekt zusammenspielen, damit er an Eisen, Nickel oder seinem magnetischen Gegenstück haftet. Die magnetischen Momente seiner Elektronen zeigen in dieselbe Richtung, auch wenn sie kein äußeres Magnetfeld dazu zwingt.

Magnetismus
Ein Team von der ETH Zürich hat in einem künstlich hergestellten Material eine neue Art von Magnetismus nachgewiesen. Das Bild zeigt Beispiele für herkömmliche magnetische Stoffe: Unten ein Magnetitstein, oben ein Neodymmagnet.
Foto: Gok Lú lè

Magnetische Momente mit anderer Orientierung

Dies wiederum passiert durch die sogenannte Austauschwechselwirkung, also eine Kombination aus elektrostatischer Abstoßung zwischen Elektronen und quantenmechanischen Effekten der Elektronen-Spins, die ihrerseits für die magnetischen Momente verantwortlich sind. So lautet die gängige Erklärung dafür, dass bestimmte Materialien wie Eisen oder Nickel ferromagnetisch sind, also permanent magnetisch, solange man sie nicht über eine bestimmte Temperatur erhitzt.

An der ETH Zürich haben nun Forschende um Ataç Imamoğlu vom Institut für Quantenelektronik und Eugene Demler vom Institut für theoretische Physik in einem künstlich produzierten Material eine neue Art von Ferromagnetismus nachgewiesen, bei der die Ausrichtung der magnetischen Momente ganz anders zustande kommt. Die neuen Ergebnisse wurden im Fachjournal "Nature" vorgestellt.

Die Gruppe um Imamoğlu stellte für ihre Experimente ein besonderes Material her, indem die Forscherinnen und Forscher hauchdünne Lagen von zwei verschiedenen Halbleitermaterialien (Molybdändiselenid und Wolframsulfid) aufeinanderlegten. Durch die verschiedenen Gitterkonstanten der beiden Materialien, also die Abstände zwischen ihren Atomen, ergibt sich dabei in der Kontaktebene ein zweidimensionales periodisches Potenzial mit großer Gitterkonstante, das durch Anlegen einer elektrischen Spannung mit Elektronen aufgefüllt werden kann.

Moiré-Materialien

"Solche Moiré-Materialien haben in den letzten Jahren großes Interesse hervorgerufen, da man mit ihnen Quanteneffekte von stark wechselwirkenden Elektronen in Festkörpermaterialien sehr gut untersuchen kann", sagte Imamoğlu. "Über ihre magnetischen Eigenschaften aber war bisher wenig bekannt." Um diese magnetischen Eigenschaften zu analysieren, untersuchten Imamoğlu und seine Kolleginnen und Kollegen, ob das Moiré-Material bei einer bestimmten Elektronenfüllung paramagnetisch war, die magnetischen Momente also ungeordnet waren, oder aber ferromagnetisch.

Magnetismus
Bei ihrem Experiment füllten die Forschenden das Moiré-Material mit Elektronen und maßen jeweils die Magnetisierung. Bis zu einer Füllung von genau einem Elektron pro Gitterplatz blieb das Material unmagnetisch. Kamen dann aber noch mehr Elektronen dazu, verhielt sich das Material plötzlich ähnlich wie ein Ferromagnet.
Grafik: ETH Zürich

Dazu beleuchteten sie das Material mit Laserlicht und bestimmten, wie stark das Licht für verschiedene Polarisierungen reflektiert wurde. Die Polarisierung gibt an, in welche Richtung das elektromagnetische Feld des Laserlichts schwingt, und je nach Ausrichtung der magnetischen Momente – und damit der Elektronen-Spins – reflektiert das Material eine Polarisierung stärker als die andere. Aus dieser Differenz kann dann berechnet werden, ob die Spins alle in dieselbe oder in verschiedene Richtungen zeigen, woraus sich wiederum die Magnetisierung ergibt.

Überraschendes Verhalten

Indem die Physikerinnen und Physiker die Spannung schrittweise erhöhten, füllten sie das Material mit Elektronen und maßen jeweils die Magnetisierung. Bis zu einer Füllung von genau einem Elektron pro Moiré-Gitterplatz (auch als Mott-Isolator bezeichnet) blieb das Material paramagnetisch. Als die Forschenden mehr Elektronen in das Gitter füllten, passierte Unerwartetes: Das Material verhielt sich plötzlich ähnlich wie ein Ferromagnet.

"Das war ein schlagender Hinweis auf eine neue Art von Magnetismus, die durch die Austauschwechselwirkung nicht erklärt werden kann", sagte Imamoğlu. Denn wenn die Austauschwechselwirkung für den Magnetismus verantwortlich wäre, würde dieser schon mit weniger Elektronen im Gitter auftreten. Das plötzliche Einsetzen ließ also auf einen anderen Effekt schließen.

Magnetismus, Physik
Im Moiré-Material sind die Elektronen-Spins ungeordnet, wenn sich genau ein Elektron auf einem Gitterplatz befindet (links). Sobald es mehr Elektronen als Gitterplätze gibt (rechts) und sich aus je zwei Elektronen Doublons bilden können (rot), richten sich die Spins ferromagnetisch aus, da so die kinetische Energie des Doublons minimiert wird.
Grafik: ETH Zürich

Eugene Demler, Ko-Autor der Studie, hatte schließlich die entscheidende Idee: Es könnte sich um einen Mechanismus handeln, den der japanische Physiker Yosuke Nagaoka bereits 1966 theoretisch vorhergesagt hatte. Dabei minimieren die Elektronen durch parallele Ausrichtung der Spins ihre Bewegungsenergie, die viel größer als die Austauschenergie ist. Im Experiment der ETH-Forschenden passiert dies, sobald im Moiré-Material mehr als ein Elektron pro Gitterplatz vorhanden ist.

Weitere Experimente

Dadurch können sich jeweils zwei Elektronen zu sogenannten Doublons zusammentun. Die kinetische Energie ist dann minimiert, wenn sich die Doublons durch quantenmechanisches Tunneln im gesamten Gitter ausbreiten können. Das wiederum geht aber nur, wenn die einzelnen Elektronen im Gitter ihre Spins ferromagnetisch ausrichten, da sonst quantenmechanische Überlagerungseffekte gestört werden, welche die freie Ausbreitung der Doublons ermöglichen.

"Bislang wurden solche Mechanismen für kinetischen Magnetismus nur in Modellsystemen nachgewiesen, die beispielsweise aus vier Quantenpunkten bestehen", sagte Imamoğlu, "aber noch nie in ausgedehnten Festkörpersystemen wie unserem." In nächster Zeit möchte er die Parameter des Moiré-Gitters verändern, um zu untersuchen, ob der Ferromagnetismus auch bei höheren Temperaturen erhalten bleibt; im jetzigen Experiment musste das Material noch auf ein Zehntelgrad über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt werden. (red, 16.11.2023)